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UN-Bericht: Welthunger steigt im Pandemie-Jahr an

WFP/Grant Lee Neuenburg, Eine Frau und ihr Baby stehen vor einem Zelt in einem Flüchtlingscamp, Cabo Delgado, Mosambik.
Afrika verzeichnet größten Sprung. Die Welt befindet sich an einem kritischen Punkt und muss jetzt handeln, um den Trend bis 2030 umzukehren.

Rom – Der Welthunger hat sich im Jahr 2020 dramatisch verschlimmert, so die Vereinten Nationen heute – ein Großteil davon ist wahrscheinlich auf die Auswirkungen von COVID-19 zurückzuführen. Während die Auswirkungen der Pandemie noch nicht vollständig erfasst sind , schätzt ein Bericht mehrerer Organisationen, dass etwa ein Zehntel der Weltbevölkerung – bis zu 811 Millionen Menschen – im vergangenen Jahr Hunger litten. Diese Zahl deutet darauf hin, dass es enormer Anstrengungen bedarf, damit die Welt ihr Versprechen, den Hunger bis 2030 zu beenden, einhalten kann.

Die diesjährige Ausgabe des Berichts The State of Food Security and Nutrition in the World ist die erste globale Auswertung dieser Art, während der Pandemie. Der Bericht wird gemeinsam von der UN Food and Agriculture Organization (FAO), dem International Fund for Agricultural Development (IFAD), dem UN Children’s Fund (UNICEF), dem UN World Food Programme (WFP) und der World Health Organization (WHO) veröffentlicht.

Vergangene Ausgaben des Berichts hatten bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Ernährungssicherheit von Millionen Menschen – darunter viele Kinder – auf dem Spiel steht.  „Leider deckt die Pandemie weiterhin Schwachstellen in unseren Ernährungssystemen auf, die das Leben und die Lebensgrundlage von Menschen auf der ganzen Welt bedrohen“, schreiben die Leiter*innen der fünf UN-Organisationen[1] im diesjährigen Vorwort.

Sie warnen vor einem „kritischen Wendepunkt“, auch wenn sie neue Hoffnungen auf eine verstärkte diplomatische Dynamik setzen. „Dieses Jahr bietet mit dem bevorstehenden UN Food Systems Summit, dem Nutrition for Growth Summit und dem COP26 zum Klimawandel eine einmalige Gelegenheit, Ernährungssicherheit und Ernährung durch die Umgestaltung von Ernährungssystemen voranzubringen.“ „Die Ergebnisse dieser Veranstaltungen“", fügen die fünf hinzu, „werden die [...] zweite Hälfte der UN-Dekade für Ernährung, der sogennanten UN Decade of Action on Nutrition prägen“ – ein globales politisches Engagement, dessen Erfolg noch aussteht.

Die Zahlen im Detail

Bereits Mitte der 2010er Jahre begann der Hunger schleichend anzusteigen und zerstörte die Hoffnung auf einen unumkehrbaren Rückgang. Beunruhigenderweise stieg der Hunger im Jahr 2020 sowohl absolut als auch proportional an und übertraf das Bevölkerungswachstum: Schätzungsweise 9,9 Prozent aller Menschen litten im vergangenen Jahr Hunger, gegenüber 8,4 Prozent im Jahr 2019.

Mehr als die Hälfte aller Hungernden (418 Millionen) leben in Asien, mehr als ein Drittel (282 Millionen) in Afrika und ein kleinerer Anteil (60 Millionen) in Lateinamerika und der Karibik. Der stärkste Anstieg des Hungers war jedoch in Afrika zu verzeichnen, wo das geschätzte Auftreten von Unterernährung mit 21 Prozent der Bevölkerung mehr als doppelt so hoch ist wie in jeder anderen Region.

Auch bei anderen Messungen sah das Jahr 2020 düster aus. Insgesamt hatten mehr als 2,3 Milliarden Menschen (oder 30 Prozent der Weltbevölkerung) das ganze Jahr über keinen Zugang zu angemessener Nahrung: Dieser Indikator – bekannt als das Vorkommen von moderater oder schwerer Ernährungsunsicherheit  – stieg in einem Jahr so stark an wie in den vorangegangenen fünf Jahren zusammen. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern vertiefte sich: Auf 10 hungernde Männer kamen im Jahr 2020 11 Frauen, die Hunger leiden. Zum Vergleich: 2019 waren es nur 10,6.

Mangelernährung in all ihren Formen hielt an, wobei Kinder einen hohen Preis zahlten: In 2020 waren schätzungsweise 149 Millionen Kinder unter fünf Jahren zu klein für ihr Alter (‚Stunting‘); mehr als 45 Millionen – zu dünn für ihre Größe; und fast 39 Millionen – übergewichtig[2].  Ganze drei Milliarden Erwachsene und Kinder blieben von einer gesunden Ernährung ausgeschlossen, größtenteils aufgrund zu hoher Kosten. Fast ein Drittel der Frauen im gebärfähigen Alter leidet an Anämie. Trotz Fortschritten in einigen Bereichen – zum Beispiel werden mehr Säuglinge ausschließlich mit Muttermilch gestillt – ist die Welt nicht auf dem Weg, die Ziele für alle Ernährungsindikatoren bis 2030 zu erreichen.

Andere Ursachen für Hunger und Mangelernährung

In vielen Teilen der Welt hat die Pandemie brutale Rezessionen ausgelöst und den Zugang zu Nahrung gefährdet. Doch schon vor der Pandemie breitete sich der Hunger aus; die Fortschritte bei der Bekämpfung von Mangelernährung hinkten hinterher. Dies gilt umso mehr für Länder, die von Konflikten, Klimaextremen oder anderen wirtschaftlichen Abschwüngen betroffen sind oder mit großer Ungleichheit zu kämpfen haben – allesamt Faktoren, die der Bericht als größte Treiber von Hunger identifiziert, die wiederum zusammenwirken.[1]

Bei den aktuellen Entwicklungen schätzt der Bericht „The State of Food Security and Nutrition in the World“, dass das Ziel 2 für nachhaltige Entwicklung (Zero Hunger bis 2030) um fast 660 Millionen Menschen verfehlt werden wird. Von diesen 660 Millionen könnten etwa 30 Millionen mit den dauerhaften Auswirkungen der Pandemie in Verbindung gebracht werden.

Was (noch) getan werden kann

Wie der Bericht aus dem Vorjahr zeigt, ist eine Transformation der Ernährungssysteme unerlässlich, um Ernährungssicherheit zu erreichen, Ernährung zu verbessern und eine gesunde Ernährung für alle erreichbar zu machen. Die diesjährige Ausgabe geht noch weiter und skizziert sechs „Transformationspfade“. Diese, so die Autor*innen, beruhen auf einer „kohärenten Reihe von politischen Maßnahmen und Investitionsportfolios“, um den Ursachen von Hunger und Mangelernährung entgegenzuwirken.

Abhängig von der spezifischen Ursache (oder einer Kombination von Ursachen), mit der ein jeweiligesLand konfrontiert ist, fordert der Bericht die politischen Entscheidungsträger*innen dazu auf:

  • Humanitäre, entwicklungspolitische und friedensfördernde Maßnahmen in Konfliktgebieten zu integrieren – z.B. durch soziale Schutzmaßnahmen, um zu verhindern, dass Familien ihr geringes Vermögen im Tausch gegen Nahrungsmittel verkaufen;
  • Die Klimaresilienz im gesamten Nahrungsmittelsystem zu erhöhen – z.B., indem Kleinbäuer*innen ein breiter Zugang zu Klimarisikoversicherungen und vorrausschauender Finanzierung (Forecast-based Financing)ermöglicht wird;
  • Stärkung der Widerstandsfähigkeit der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen gegenüber wirtschaftlichen Widrigkeiten – z.B. durch Sachleistungen- oder Bargeldtransfers, um die Auswirkungen von pandemieartigen Schocks oder Preisschwankungen bei Nahrungsmitteln zu verringern;
  • Interventionen entlang der Versorgungsketten, um die Kosten für nahrhafte Nahrungsmittel zu senken - zum Beispiel, indem der Anbau von biofortifizierten Pflanzen gefördert wird oder Obst- und Gemüsebäuer*innen besseren Zugang zu Märkten erhalten;
  • Armut und strukturelle Ungleichheiten zu bekämpfen – z.B. durch die Förderung von Nahrungsmittel-Wertschöpfungsketten in armen Gemeinden durch Technologietransfer und Zertifizierungsprogramme;
  • Nahrungsmittelumgebungen zu stärken und das Konsumverhalten zu ändern – z.B. durch die Eliminierung industrieller Transfette und die Reduzierung des Salz- und Zuckergehalts im Nahrungsmittelangebot oder durch den Schutz von Kindern vor den negativen Auswirkungen des Nahrungsmittelmarketings.

Der Bericht fordert auch ein „befähigendes Umfeld von Regelungsmechanismen und Institutionen“, um die Umsetzung zu ermöglichen. Er fordert die politischen Entscheidungsträger*innen auf, sich umfassend zu beraten, Frauen und Jugendliche zu stärken und die Verfügbarkeit von Daten und neuen Technologien zu erweitern. Vor allem aber, so fordern die Autor*innen, muss die Welt jetzt handeln – oder zusehen, wie die Ursachen von Hunger und Mangelernährung in den kommenden Jahren mit wachsender Intensität wiederkehren, lange nachdem der Schock der Pandemie vorüber sein wird.

 

Lesen Sie den gesamten Bericht und die Kurzversion hier.

 


[1] Für die FAO – Qu Dongyu, Generaldirektor; für IFAD – Gilbert F. Houngbo, Präsident; für UNICEF – Henrietta H. Fore, Exekutivdirektorin; für WFP – David Beasley, Exekutivdirektor; für WHO – Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor.

[2] Die Abstandsregelungen machten die Erhebung von Ernährungsdaten im Jahr 2020 außergewöhnlich schwierig. Einige Zahlen – insbesondere für die Mangelernährung bei Kindern unter fünf Jahren – könnten höher sein als diese Schätzungen.

[3] Je mehr Treiber (von Hungerursachen) es in einem Land gibt, desto schlimmer ist die Unter- und Mangelernährung, desto größer ist der Hunger und desto unerschwinglicher sind die Kosten für eine gesunde Ernährung für betroffene Bürger*innen.

 

Themen

Gesicherte Ernährung Gesundheitskrisen

Kontakt

Martin Rentsch

Pressesprecher

Tel. +49 30 20 614929

 

GLOSSAR

Hunger: ein unangenehmes oder schmerzhaftes Gefühl, das durch zu wenig Energie aus der Nahrung verursacht wird. Nahrungsentzug; nicht genügend Kalorien zu sich nehmen. Wird hier austauschbar mit (chronischer) Unterernährung verwendet. Gemessen an der Prävalenz der Unterernährung (‚prevalence of undernourishment‘/PoU).

Moderate Ernährungsunsicherheit: ein Zustand der Ungewissheit über die Möglichkeit, Nahrung zu bekommen; das Risiko, Mahlzeiten auszulassen oder zu sehen, dass die Nahrung ausgeht; gezwungen zu sein, Kompromisse bei der Ernährungsqualität und/oder der Menge der aufgenommenen Nahrung einzugehen.

Schwere Ernährungsunsicherheit: keine Nahrung mehr haben; Hunger erleben; im Extremfall einen Tag oder länger ohne Nahrung auskommen müssen.

Mangelernährung: der Zustand, der mit einem Mangel, einem Überschuss oder einem Ungleichgewicht bei der Aufnahme von Makro- und/oder Mikronährstoffen einhergeht. Zum Beispiel sind Unterernährung und Fettleibigkeit beides Formen von Mangelernährung. Das sogenannte ‚Stunting‘ oder ‚Wasting‘ bei Kindern sind beides Indikatoren für Unterernährung.