Der zentrale Sahel: Eine vergessene humanitäre Krise
„Der Konflikt breitet sich aus und zwar schnell", sagt Margot van der Velden, Leiterin der Krisenabteilung des UN World Food Programme (WFP).
Sie spricht vom zentralen Sahel. Eine Region in Afrika, zu der Burkina Faso, Mali und Niger gehören, wo schätzungsweise 20 Millionen Menschen in Konfliktgebieten leben und 2,4 Millionen Menschen dringend Ernährungshilfe benötigen — eine Zahl, die aufgrund der kontinuierlichen Vertreibungen weiter wachsen könnte.
„Der Sahel ist seit langem strukturell sehr arm. Ihm fehlen die benötigten größeren Investitionen", sagt van der Velden. „Er ist für Klimaschocks anfällig mit den höchsten Temperaturen und den wenigsten natürlichen Ressourcen für die Landwirtschaft."
In Teilen Burkina Fasos wüteten das ganze Jahr Konflikte. Die Abwärtsspirale drohender Gewalt bewaffneter Gruppen zwang viele zur Flucht in ländliche Gebiete gezwungen.
„Im Januar gab es etwa 80.000 Vertriebene, jetzt sind es etwa 486.000", sagt van der Velden — weitere 250.000 Menschen wurden innerhalb Malis und dem Niger vertrieben. Das wird die Zahl der Vertriebenen in der Sahel-Region in den kommenden Wochen auf insgesamt eine Millionen Menschen anheben.
Da auch diese beiden Länder am Rande des Abgrunds stehen, erklärte WFP im September den zentralen Sahel zu einer Level 3 Krise — die höchste Stufe.
„L3 bedeutet, dass wir als Organisation der Meinung sind, nicht genügend Kapazitäten zu haben, um dieser komplexen und sich verschlimmernden Situation gerecht zu werden", sagt van der Velden. Das heißt, wir müssen unsere Prioritäten schnell umschichten, um die Hilfe vor Ort zu ermöglichen. Die Ernährungshilfe ist für WFP und andere humanitäre Organisationen ein Balanceakt. Der Sahel ist ein trauriges Vorzeigemodell davon, wie Gewalt und extremes Wetter sich gegenseitig verstärken.
„Es ist schwieriges Terrain", sagt van der Velden. „Jetzt erst recht, weil die Menschen aufgrund des Konflikts weniger angebaut haben. Vieh wird getötet, Menschen verlieren ihre Lebensgrundlagen." Sie fügt hinzu: „Wir hatten noch keine großflächige Dürre in diesen Gebieten, aber wir wissen, dass sich eine große Dürre früher oder später anbahnt — denn das passiert im Sahel zyklisch."
Außerdem sind sechzig Prozent der Bevölkerungen in Sahelländern nicht älter als 25 Jahre und nur wenige haben Arbeit oder ein sozialen Sicherungsnetz. Chronische Mangelernährung, Armut, fehlender Zugang zu Nahrungsmitteln und Ungleichheit treffen auf eine immer jüngere Bevölkerung und manche schließen sich bewaffneten Gruppen an.
Mühsam errungene Erfolge im Bereich der Widerstandsfähigkeit und Entwicklung drohen auseinanderzufallen. Im Niger unterstützte WFP von Januar bis September 9.700 heranwachsende Schülerinnen mit Stipendien. Nun schließen viele Schulen. In vielen Konfliktgebieten kann jedes dritte Kind nicht die Schule besuchen.
Schulen sind meist unter den ersten Gebäuden, die für Vertriebene als Zufluchtsort freigeräumt werden. Dadurch können in aufnehmenden Gemeinden weniger Kinder zur Schule gehen. Erschwerend kommt hinzu, dass WFP diese aufnehmenden Gemeinden aufgrund der Konflikte oft nicht erreichen kann.
„Im Moment beobachten wir, dass sich Menschen auf der Suche nach zwei Dingen weiter in den Süden bewegen — Sicherheit und ‚meine Kinder weiterhin zur Schule schicken zu können‘", sagt Alexandre Le Cuziat, ein WFP-Helfer, der kürzlich aus der Region zurückkehrte.
Menschen, die fliehen müssen, „erleben eine Art Albtraum und haben häufig posttraumatische Belastungsstörung", sagt er. „Ich meine, es ist ein traumatisches Ereignis, eine Attacke zu überleben."
Le Cuziat trifft van der Velden im WFP-Hauptsitz in Rom. Es ist Mittwochmorgen. Er beschreibt die Frustration der Vertriebenen, die er kennengelernt hatte. Sie genossen über 30 Jahre lang Frieden und waren auf dem Weg einem „kleinen Wohlstand".
Danach sagt er: „Und dann gibt es plötzlich einen Angriff. Die Menschen fliehen mit ihren Kindern und dann war es das mit dem Wohlstand."
„Sie lassen ihr Getreide, ihre Tiere, ihre Ernten hinter sich und auf einmal haben knapp 600.000 Menschen in Burkina Faso ihre Lebensgrundlagen verloren."
WFP hat in diesem Jahr 2,6 Millionen Menschen in den drei Ländern erreicht und benötigt noch dringend Mittel, um die Hilfe auszuweiten. und die erzielten Fortschritte zu sichern — vor allem im Aufbau der Widerstandfähigkeit.
Le Cuziat betont, dass es „eine sehr schreckliche Form von Gewalt" ist, die die Menschen zur Flucht zwingt. „Menschen kommen in die Dörfer und schießen auf Menschen, Frauen und Männer".
Van der Velden nickt. „Jeden Tag kommen Menschen mit Horrorgeschichten aus ihren Dörfern, denen es gerade noch gelungen ist, zu fliehen". „Manche versuchen zurückzukehren, um nach ihren Wertsachen zu suchen und kommen nicht mehr wieder. Man muss also davon ausgehen, dass sie getötet worden sind…es sind schreckliche Geschichten."
WFP konzentriert seine Hilfe auch auf einheimische Familien. Denn Gastfreundschaft kommt schnell an ihre Grenzen, wenn jene, die selbst beinahe nichts haben, dutzende Gäste versorgen müssen.
Sowohl Vertriebene als auch aufnehmende Gemeinden sehen sich einem weiteren Problem gegenübergestellt: In ein neues Gebiet zu ziehen– oder umgekehrt, ein Gebiet nicht verlassen zu können — erweckt möglicherweise das Misstrauen der Regierung, wie beides ohne Verbindungen oder Komplizenschaft mit bewaffneten Gruppen möglich sein kann.
Misstrauen und Gewalt respektieren politische Grenzen ebenso wenig wie die nächste Dürre — eine weitere Bedrohung, die laut van der Velden und Le Cuziat ständig über dem Sahel schwebt. Die letzte Dürre ist mehr als zehn Jahre her.
Burkina Faso, Mali und der Niger sehen sich also einer komplizierten Kombination an Problemen ausgesetzt. „Die Menschen verstehen einfach nicht, warum das passiert", sagt Le Cuziat, sie fragen sich: „Warum tun Menschen sowas? Wie können wir überleben? Wann wird das aufhören?"
Seit den 1990ern waren Mali und Burkina Faso „Aushängeschilder", so Le Cuziat. „Es waren Vorzeigebeispiele für Kontexte, in denen trotz weniger Ressourcen Stabilität herrscht, Länder auf dem Weg zur Demokratie, Menschen, die friedlich zusammenlebten, ohne Konflikt". Kurz: „Wir hatten überall Zugang, es gab Tourismus."
Die Stabilität, welche die Länder auf Erfolgskurs brachte, endete mit Konflikten, die sich zuerst im Mai 2012 in Mali ausbreiteten und 2018 auch in Burkina Faso begannen. In beiden Ländern gefährdet die Gewalt Errungenschaften in der Widerstandsfähigkeit und bisherige Investitionen.
Ein weiteres Problem für den zentralen Sahel ist das internationale Interesse. Obwohl das Ausmaß der Tragödie beträchtlich ist und möglicherweise mehr Menschen betrifft als die Konflikte in Syrien und im Jemen zusammen, unterscheidet sich die mediale Aufmerksamkeit von jener, die die beiden Länder erhalten.
Sie fügt hinzu: „Wir tun alles, um weiterhin zu helfen und unsere Hilfe weiter auszubauen. Denn das gibt den Menschen Hoffnung — sie fühlen sich nicht komplett im Stich gelassen."
Dafür arbeitet WFP mit den nationalen Regierungen, UNICEF, FAO und vielen lokalen und internationalen humanitären Partnern zusammen.
Was dringend benötigt wird, ist globale Aufmerksamkeit, politische und diplomatische Bemühungen und enorme Unterstützung für die Menschen vor Ort — Leben retten mit Fokus auf nachhaltige Entwicklung.
Das bedeutet zusätzlich zur humanitären Antwort auf die Krise, auch in den Pufferzonen — also jenen Bereichen des Landes, die im Begriff sind, in Gewalt abzugleiten — aktiv sein müssen.