Tagebuch aus Gaza: "Wenn der Tod nicht durch Luftangriffe kommt, dann durch Hunger"
Nach sieben Wochen heftiger Bombardements waren 1,8 Millionen Menschen im Gazastreifen – rund 80% der Bevölkerung – auf der Flucht, gefangen und mit akutem Hunger konfrontiert. Dann kam endlich eine einwöchige humanitäre Pause. Sie brachte nicht nur eine dringend benötigte Verschnaufpause, sondern ermöglichte auch, dass lebenswichtige Hilfslieferungen in die kleine, schwer gebeutelte Enklave gelangen konnten. Dort fehlt es an Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und allem Notwendigen.
Hind, die aus Gaza kommt, hat es sich zur Mission gemacht, die Geschichten ihres Volkes zu teilen. In diesem Bericht legt sie Zeugnis ab über das Leid, das Gaza heimsucht, und erzählt, wie sie und ihre Mitmenschen durchhalten. Wochenlang hat Hind über das Leben in Gaza berichtet. Im Folgenden teilt sie ihre Erfahrungen von Vertreibung, dem Verlust ihres Zuhauses, Tagen des Hungers, dem Verlust der Hoffnung und schließlich der Wiederfindung eben dieser.
24. November
Als ich heute aufwachte, herrschte eine ungewohnte Stille. Die Abwesenheit von Kriegsflugzeugen, Drohnen und Bomben. Die Ungewissheit, ob sie von Dauer sein würde, machte mir zu schaffen.
Am ersten Tag der humanitären Pause führte unser erster Gang zum Al-Aqsa-Martyrs-Krankenhaus, in das Krankenwagen Zivilisten brachten, die auf einer Straße angeschossen wurden, die eigentlich sicher sein sollte. "Wir wollten zurück nach Hause", schrie ein Mann mit einer Verletzung am rechten Bein.
Menschen schrien, die Ärzte versuchten in aller Eile, die an den unteren Gliedmaßen Verletzten vor einer Amputation zu bewahren. Die Böden des Krankenhauses, einst makellos, waren nun in den Farben des vergossenen Blutes gefärbt. Als ich mich auf dem blutgetränkten Boden umsah, konnte ich nicht umhin, mich zu fragen: "Wo ist der Waffenstillstand?"
Im Laufe des Tages kehrte eine beunruhigende Normalität ein - eine Stille, die sich nicht um die rücksichtslosen Taten zu scheren schien, bei denen Dutzende von Menschen gleich am ersten Tag der vermeintlichen Atempause getötet oder verletzt wurden - mindestens 17.
Inmitten dieser herzzerreißenden Szenen beschloss ich, an der Küste des Gazastreifens Trost zu suchen. Ich sehnte mich nach dem ruhigen Anblick des Meeres und dem beruhigenden Rhythmus der Wellen. Die Küste, die ich seit sechs Wochen nicht gesehen hatte. Ich stand barfuß im Sand und atmete tief ein. Alles, was ich mir wünsche, ist ein Ende der Gewalt.
Kinder schwammen im Meer, lachten und spielten - scheinbar ohne sich um den Krieg zu kümmern. Früher trafen sich die Bewohner des Gazastreifens am Meer zu Picknicks mit Freunden und Familie, aber heute gab es keine. Das Fehlen jeglicher Lebensmittel unterstrich den krassen Gegensatz zwischen den alltäglichen Freuden des Lebens und der düsteren Realität des Konflikts.
25. November
Das Abkommen über die humanitäre Pause sollte die Lieferung von Hilfsgütern in den Gaza-Streifen ermöglichen. Doch die Regale der Supermärkte waren leer. Die Menschen suchten nach Salz, Hefe und Weizenmehl, um Brot zu backen. Aber niemand konnte etwas finden.
Auf einem Schild, das an den Eingang eines Supermarktes geheftet war, stand: "WIR HABEN WEDER HEFE NOCH SALZ".
Wir gingen auf der Suche nach Lebensmitteln auf dem Marktplatz von Deir El Balah, konnten aber keine finden. Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Auberginen und Orangen war alles, das es gab. Wir suchten sogar nach Winterkleidung und Decken, aber auch hier fanden wir nichts.
Wenn einige Supermärkte überhaupt etwas in ihren Regalen hatten, dann waren es Seife und Shampoo.
Die Menschen gehen immer noch in die Geschäfte, durchqueren die Gänge in der Hoffnung, etwas zu finden, das sie ihren Kindern, die sich nach Süßigkeiten sehnen, mitgeben können. Aber wie soll man ein Kind beruhigen, das nach Schokolade schreit, wenn man ihm nicht einmal Brot geben kann?
Es gibt nicht genug Lebensmittel und Hilfsgüter für alle Menschen im Gazastreifen.
18:00 Uhr:
Ich habe durch ein Video, das jemand auf Instagram geteilt hat, erfahren, dass mein Haus bombardiert wurde. Ich leugne es immer noch. Ich werde es erst glauben, wenn ich es mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Aber das kann ich nicht.
Mein Zuhause ist nur ein paar Minuten entfernt, aber ich kann nicht einmal nach meinen Habseligkeiten suchen, weil es den Menschen verboten ist, dorthin zu gehen. Der Gazastreifen ist seit 2007 eine belagerte Enklave, und die Palästinenser*innen müssen sich damit abfinden, dass sie sich weder innerhalb des Streifens noch beim Verlassen desselben frei bewegen können.
Ein vorübergehender Waffenstillstand ohne Rückkehr in die Heimat war grausam. Das geht nicht nur mir so. "Können wir in unsere Häuser zurückkehren?", ist die einzige Frage, die sich jeder stellt. Nicht nach Hause zurückkehren zu können, machte mich traurig.
Aber nicht in der Lage zu sein, sich vom Norden in den Süden des Gazastreifens zu bewegen, hat mich mehr erstickt als die Bombardierung.
Während der siebentägigen humanitären Pause gelang es WFP und Partnern, die Hilfe auszuweiten und Menschen in Gebieten zu erreichen, die wochenlang von Hilfe abgeschnitten waren. Hunderte von Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern fuhren in den Gazastreifen, doch angesichts der sich abzeichnenden Katastrophe war das nicht genug.
Dann wurden die Kämpfe wieder aufgenommen, was zu weiteren Vertreibungen, der Gefahr von Hungersnöten und Krankheiten führte.
1. Dezember
Am Freitagmorgen um 7 Uhr wurden wir von Explosionen und Drohnensummen am Himmel geweckt.
Wir wussten, dass es kommen würde, aber niemand war darauf vorbereitet, dass es nach sieben Tagen der Ruhe wieder beginnen würde.
Israelische Kampfflugzeuge begannen mit zahlreichen Luftangriffen auf den gesamten Gazastreifen, wobei Wohngebiete überall in Gaza angegriffen wurden. Die Explosionen haben seit der Wiederaufnahme der Kämpfe nicht aufgehört. Artilleriebeschuss, Drohnen, Kampfflugzeuge und Kanonenboote feuern ununterbrochen.
In den ersten 24 Stunden sind Berichten zufolge mindestens 200 Palästinenser*innen getötet worden. Tausende liegen noch unter den Trümmern, und der Zivilschutz kann nicht alle Menschen retten.
Die israelischen Streitkräfte haben jedoch eine Karte mit Blocknummern veröffentlicht. Jedem Gebiet wurde eine Blocknummer zugeteilt, von wo aus sie beginnen werden, jedem Block Anweisungen zur Evakuierung zu geben. Aber niemand weiß, welcher Block seinem Haus zugewiesen wurde, und niemand weiß, wohin er gehen soll. Sie fliehen von einem bombardierten Gebiet zum anderen.
Die Menschen sind frustriert und verängstigt, denn sie wurden bereits aus ihren Häusern in Gebiete im Gazastreifen vertrieben, von denen man ihnen sagte, sie seien sicher. Aber die Realität sieht so aus: In Gaza ist kein Ort sicher. Die Menschen fliehen von einem Tod zum anderen.
Wenn der Tod nicht durch Luftangriffe kommt, dann durch Verhungern.
Heute teilten wir uns eine Flasche Saft, die ein Freund auftreiben konnte. Wir rationierten sie unter uns, als sich in der Nähe unserer Unterkunft unerwartet eine gewaltige Explosion ereignete. Es war die letzte Flasche Saft, die wir auf Lager hatten. Ich habe es nicht geschafft, auch nur einen Schluck davon zu trinken.
Heute war ich sehr hungrig. Das Einzige, was ich auftreiben konnte, war Zaatar (Thymian) und etwas Brot, das die Mutter meines Freundes über dem Holzfeuer gebacken hatte. Um Weizenmehl zum Brotbacken zu bekommen, müssen Familien astronomische Summen zahlen. In einem Gebiet im Gazastreifen kostete ein Sack Weizenmehl - ein seltener Fund in diesen Tagen - 400 NIS (ca. 100 Euro).
Die Auswahl an Lebensmitteln gehört nun der Vergangenheit an. Wir haben nicht mehr die Wahl, was wir essen, wir essen, was verfügbar ist.
Ich sehnte mich nach etwas Süßem. Ich habe so lange nichts gegessen, dass ich den Geschmack von Pfannkuchen mit Bananen vergessen habe.
4. Dezember
Wir haben offiziell nichts mehr zu essen. Wir waren auf dem Markt, um etwas zu besorgen und kamen mit Gurken zurück. Wir sind ausgelaugt, dehydriert, hungrig und frieren.
Die Menschen in Gaza-Stadt haben nicht einmal die Freiheit, nach Nahrung zu suchen. Jeder, der sich bewegt, würde sein Leben riskieren. Die Nachbarn haben ihre Türen geöffnet, um alles, was sie haben, untereinander zu teilen.
Jetzt, da der mittlere Teil des Gazastreifens abgeschnitten ist, kommt keine Hilfe mehr an. Die Menschen baten darum, umzuziehen, aber wir haben keine Möglichkeit zu gehen und können nirgendwo hin. Die Situation ist verheerender denn je.
Wir sind am Verhungern. Wir sitzen in der Falle. Wir sind ununterbrochen Explosionen, Luftangriffen, Artilleriebeschuss und Kanonenbootfeuer ausgesetzt. Alles, überall, auf einmal.
Wir haben keinen Zugang zu Wasser - nicht einmal zu schmutzigem Wasser - zu Strom, zu Lebensmitteln, zu nichts.
Gestern gab es die erste Mahlzeit um 20 Uhr. Ich hatte den ganzen Tag über Hunger, aber ich habe es niemandem gesagt, weil auch alle anderen hungrig waren.
Heute, am Morgen, hatten wir etwas Brot zum Frühstück. Aber ich kann nicht anders als zu denken: "Wann wird das enden? Wann werden wir nach Hause gehen?" - obwohl unsere Häuser bombardiert wurden. Nichts existiert. Nichts fühlt sich gleich an. Es regnet jetzt, ich habe gerade einen Luftangriff gehört.
Die Menschen sind angespannt, zerbrechlich und frieren. Sie haben keine Winterkleidung, denn als sie evakuiert wurden, hatten sie keine Zeit, ihre Kleidung, ihr Hab und Gut, ihre geliebten Dinge mitzunehmen.
Ich auch. Als ich aus dem Haus ging, tat ich so, als würde ich zur Arbeit gehen und wieder zurückkommen. Am Ende bin ich nie wieder zurückgekehrt.
Alles ist herzzerreißend und überwältigend. All diese Babys, Kinder und Leichen.
Ich hasse die Sirenen der Krankenwagen. Ich hasse es, wenn es regnet, weil ich weiß, dass alle zittern, es ist sehr kalt.
Wir haben seit den ersten paar Tagen keinen Strom mehr. Ich habe vergessen, was Strom bedeutet.
Ich vermisse es, in meinem Bett zu schlafen. Ich vermisse meine Mutter. Ich vermisse meine Familie. In den letzten 60 Tagen habe ich sie nicht länger als zwei Stunden gesehen.
Die Gewalt nimmt von Tag zu Tag zu. Immer mehr Menschen werden getötet, verhungern. Wir sind Zeugen von all dem und können nichts tun.
Es ist herzzerreißend, dies mitzuerleben, ohne dass ein Ende in Sicht ist. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass ich nichts anderes tun kann, als dieses Gemetzel mit allen anderen im Gazastreifen mit anzusehen.